Technologie wird Behinderung komplett verändern

Gastbeitrag E-Media von Gregor Demblin, Unternehmensberater und Gründer von myAbility

Im Alter von 18 Jahren, auf meiner Maturareise, ändert sich mein Leben innerhalb von einer Minute komplett. Ein Sprung ins Wasser, ein gebrochenes Genick. Mit viel Glück habe ich überlebt, aber die Diagnose Querschnittslähmung traf mich wie ein Schlag.

Jahrelang wollte ich es nicht wahrhaben, nicht mehr gehen zu können. Ich habe jeden Aufwand getrieben, um es wieder zu erlernen, habe bei allen erdenklichem Therapien Blut und Tränen geschwitzt, wurde von Ärzten auf der ganzen Welt untersucht, habe die modernsten Elektrostimulationstherapien gemacht – jedoch ohne Erfolg. Irgendwann sagten mir die Ärzte, dass meine Anstrengungen keinen Sinn mehr hätten.

Es fiel mir unendlich schwer, das Gehen für immer abzuschreiben. Ich war Anfang 20, wollte wieder Tennis spielen, Ski fahren, tanzen. Aber das Schicksal wollte es anders. So habe ich meine Energie auf andere Ziele fokussiert, und zwar auf die Beseitigung der wirklich schwierigen Barrieren: Nicht die unzähligen Stufen, Gehsteigkanten und sonstigen Hindernisse für einen Rollstuhl, sondern die Barrieren in den Köpfen. 

Heute, 20 Jahre später, habe ich ein erfolgreiches Beratungsunternehmen aufgebaut, das die größten österreichischen Unternehmen berät und damit jedes Jahr hunderte Jobs für Menschen mit Behinderung schafft. Ich habe die ganze Welt bereist, war Fallschirm springen und Geräte tauchen, bin glücklich verheiratet und Vater dreier Kinder. Das Thema „Gehen“ war für mich bis vor kurzem komplett abgeschlossen.

Bis ich 2017 zum ersten Mal ein Exoskelett ausprobieren konnte. Ein Exoskelett ist eine Konstruktion, mit der ein gelähmter Körper dank Bein- und Körperschienen sowie einer Steuerung selbst gehen kann. Trotz aller Prognosen, dass das Gehen mit meiner Lähmungshöhe unmöglich sei, funktionierte es auf Anhieb. Gleich beim ersten Versuch machte ich 437 Schritte auf meinen eigenen zwei Beinen. Ich war völlig überwältigt, einerseits von der Anstrengung, andererseits von einem Gefühlscocktail aus Freude und Tränen. 

Die Erkenntnis traf mich wie ein Schlag: Was vor Jahren unvorstellbar gewesen wäre, ist mittlerweile möglich. Das Leben von Menschen mit Behinderung wird sich komplett verändern gemeinsam mit dem Begriff der Behinderung selbst. Und der Schlüssel zu dieser Entwicklung ist der technologische Fortschritt.

Dieser Fortschritt rast voran. Immer mehr körperliche Defizite können durch Technik ausgeglichen werden. Was zunächst wie ein Thema klingt, das ausschließlich Menschen mit Behinderung betrifft, entpuppt sich beim näheren Hinsehen als breites Entwicklungsfeld, das auch die finanzielle Rückendeckung der forschenden Industrie besitzt. Denn: Die Technologien, die aus dem Behindertenbereich kommen, werden laufend weiterentwickelt, um allen Menschen Vorteile zu verschaffen. Der Trend geht dahin, den menschlichen Körper an sich zu verbessern. Hören, Sehen und die Bewegung wird optimiert.

Zum Beispiel boomen gerade Hörgeräte für jedermann, die alle Frequenzen verstärken, die das normale menschliche Ohr nicht mehr wahrnehmen kann: Man erlebt Musik damit so klar wie noch nie. Hörgeräte werden damit zum hippen Lifestyle-Produkt.

In aller Munde sind derzeit auch selbstfahrende Autos. Vor über 25 Jahren wurden die eingesetzten Technologien für Menschen mit Behinderung entwickelt, jetzt finden sie Anwendung bei allen großen Automobilherstellern.

Auch Exoskelette  werden bei weitem nicht nur zur Gehtherapie eingesetzt. Sie finden Einsatz in der Industrie, um beispielsweise schweres Heben zu erleichtern, oder auch in Kampfanzügen beim Militär. Die Liste ließe sich endlos fortsetzen. Der Trend ist der gleiche: Forschung, die ursprünglich zum Ziel hatte, bestimmte Behinderungen zu „heilen“, setzt jetzt zur allgemeinen Verbesserung des menschlichen Körpers an.

Die Stoßrichtung ist damit vorgegeben, die endgültige Vision bereits angesteuert: Google beispielsweise investiert Milliarden in die Forschung, mit dem deklarierten Ziel, den menschlichen Körper unsterblich zu machen. Die Erfolge sind bis jetzt noch spärlich, aber dennoch ist eine deutliche Verlängerung der Lebensdauer unseres Organismus mittelfristig nicht unrealistisch. Vorangetrieben wird die Entwicklung durch die Robotik, die Stammzellenforschung und die damit verbundene Züchtung von menschlichen Organen sowie die künstliche Intelligenz. Werden diese Disziplinen zusammengelegt, ist das Potenzial für den menschlichen Körper noch unabschätzbar.

Österreich darf kein Schlusslicht werden

Das klingt vielleicht nach Science-Fiction, ist es aber nicht. Das Exoskelett ist schon seit 2011 medizinisch zugelassen. Seit 2014 sind die Hersteller an der Börse. Es wird bereits täglich zu unterschiedlichsten Zwecken eingesetzt. Mit unserer Kooperation mit den Österreichischen Lotterien http://www.walkagain.at/ holen wir das Exoskelett jetzt auch nach Österreich. Aber Europa befindet sich im Dornröschenschlaf.  Überall – in Tel Aviv, im Silicon Valley, an etlichen Standorten in Asien – wird Unfassbares an Technologien entwickelt, von denen nichts im europäischen Alltag ankommt. Das bionische Exoskelett ist nur eines von vielen Beispielen.

Für blinde und sehbehinderte Menschen gibt es weiters Brillen, die sie wieder „sehen“ lassen. Das funktioniert, indem die Brille eine integrierte Kamera nutzt und dann dem Nutzer diskret ins Ohr flüstert, was sie sieht. Sie liest zum Beispiel Texte vor, erkennt bekannte Gesichter, beziffert den Wert von Geldscheinen und identifiziert Farben und Produkte. Einkaufen gehen, Kinobesuch…zu einem Preis von 500 Euro sind solche Geräte für den Alltagsgebrauch durchaus vorstellbar. Für Menschen mit physischen Behinderungen gibt es ebenfalls rasante Entwicklungen im Bereich Neuroheadsets. Mit diesen kann man alleine mit der Kraft der Gedanken Geräte wie etwa Rollstühle oder auch ferngesteuerte Autos dirigieren.

Was bedeutet das für die Behinderung? Das Voranschreiten dieser Technologien ist rasant. Ich bin überzeugt davon, dass ich in absehbarer Zeit mit einem Exoskelett gehen werde, das ich unter meiner Kleidung tragen werde. Mit dem ich mich wieder selbstständig fortbewegen werde, überall, wohin ich möchte. So wie meine werden auch viele andere Behinderungen durch technologische Hilfsmittel kompensiert werden.

Für die Arbeitswelt bedeutet das einen Paradigmenwechsel: Was heute eine Behinderung ist, wird morgen keine mehr sein. Denn dieser Begriff wird vornehmlich mit körperlichen Defiziten assoziiert. Sind diese nicht mehr wesentlich, verliert auch der Begriff an Bedeutung. In einer Zeit, wo immer mehr körperliche Tätigkeiten und Arbeitsplätze von Robotern übernommen werden, erlangen dafür andere Fähigkeiten einen höheren Wert. Das wiederum bietet Menschen mit Behinderung einen Startvorteil, denn sie erwerben, bedingt durch ihre Lebenssituation, spezielle Fähigkeiten, die andere Menschen nicht haben. Höheres Durchsetzungsvermögen, anderes Einfühlungsvermögen etwa in virtuellen Räumen, oder die vielzitierten Fähigkeiten von Menschen mit Autismus im Bereich IT. Diese Fähigkeiten sind wertvollen Ressourcen auf dem Arbeitsmarkt. Zahlreiche große Unternehmen wie etwa der Rewe-Konzern sind auf diesen Zug bereits aufgesprungen und zeigen, in welche Richtung die Reise geht.

Diese Entwicklung ist großartig und schon greifbar. Wir sind, was die technische Entwicklung angeht, bereits in der Zukunft angekommen – ohne dass das bei uns jemand bemerkt hätte. Dazu ist Österreich, ist Europa zu behäbig, die Start-up-Kultur nicht ausgeprägt genug. Aber in 35 Jahren wird die Welt nicht wiederzuerkennen sein. Und es ist auch für Österreich wichtig, hier nicht zum Schlusslicht zu werden.

Dazu ist es bereits jetzt notwendig, Pionierarbeit zu leisten. Es gilt, Investoren, Gesetzgeber, Hersteller, Innovatoren und Wissenschafter aufzurütteln, mit ins Boot zu holen und dafür zu sorgen, dass alle an einem Strang ziehen. Österreich hat geniale Innovatoren. Aus den Fachhochschulen und Universitäten kommen Entwicklungen, die international mehr als Schritt halten können, wenn man sie entsprechend unterstützt. Für diese Unterstützung zu sorgen, betrachte ich als eine der spannendsten Aufgaben unserer Gesellschaft in den nächsten Jahren.  

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